Erinnerungen von Ernst Stier
das Interview führte seine Tochter Petra Kalis
Ernst Stier
Geboren: 07.09.1932
Einschulungsjahr: 1939
Wohnort in der Schulzeit: Vogelsberg
Mein Name ist Ernst Stier, geboren am 07.09.1932, wir waren 5 Kinder, meine Brüder Karl und Wilhelm, geb. 16.03.1930, Walter geb. 13.08.1933 und unsere älteste Schwester Gertrud, geb.06.02.1925
1. Welche Erinnerungen hast du an deine Schulzeit in Kocherstetten?
Schulbeginn war für mich leider auch Kriegsbeginn. Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen.
Die Schule begann meines Wissens am 01.09.1939 für mich in Kocherstetten. Mein Freund Karl Häußler, ein Jahr jünger als ich, seine Mutter, meine Mutter und ich sind in der ersten Schulwoche gemeinsam von Vogelsberg nach Kocherstetten gelaufen.
Die Mütter haben uns den Kilometer langen Waldweg abgefragt: Wann seid ihr geboren? Wo wohnt ihr? usw., damit wir uns am ersten Schultag nicht blamieren konnten.
Es gab 8 Klassen, die ersten vier Klassen waren in einem Schulzimmer und die Klassen fünf bis acht waren in einem anderen Raum.
Ruhe und brav sein war oberstes Gebot.
Unsere Lehrerin hieß Frau Pfeiffer, sie war sehr streng. Sie kam morgens vom oberen Stock runter in den Klassenraum, da mussten wir alle aufstehen und gemeinsam einen schönen guten Morgen wünschen.
Aufgaben bekamen wir morgens, die reichten von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr, dann war der Schulvormittag vorbei. Wir mussten dann wieder 2,5 km den Berg hoch durch den Wald nach Hause laufen.
2. Woran denkst du gerne zurück, woran denkst du nicht so gern zurück?
Schön in der Schulzeit war die Kameradschaft und dass wir in der Zeit zu Hause nicht arbeiten mussten. Jeder von uns war in der Landwirtschaft, da mussten alle mithelfen.
Nicht so schön waren die strengen Lehrer: es gab Tatzen, am meisten weh getan hat es vorne auf den Fingerspitzen. Oft war die Bestrafung durch einen Lehrer nicht gerechtfertigt. Oder man wurde an den Ohren hochgehoben. Ein Schulkamerad hatte dann eingerissene Ohrläppchen.
Im Winter hatten wir oft Minus 25 Grad, da war das Laufen zur Schule nicht so schön. Oft sind wir umgedreht, weil der Wind so schlimm war, dass wir kaum die Augen offenhalten konnten. Da hat aber auch niemand geschimpft..
3. Erinnerst du dich noch an deinen ersten Schultag?
Meine Mutter und Frau Häußler haben uns den ganzen Weg am ersten Schultag von
Vogelsberg nach Kocherstetten begleitet. Wie schon gesagt, den ganzen Weg dahin haben
sie uns abgefragt, dass wir auch nichts Falsches sagen. Jeder hatte einen kleinen
Lederschulranzen oder einen Stoffbeutel dabei mit Griffel und Kreide, ein paar Hefte mit Bleistift und Radiergummi. Eine Schultüte oder Süßigkeiten gab es nicht.
4. Wie war der Schulweg?
2,5 km durch den Wald, den Berg runter war der Schulweg. Im Sommer hatten wir viel Spaß. Wir haben Steine gesammelt und sie den Hang runter rollen lassen, bis sie an den Bäumen abgeprallt sind, das hat Schläge gelassen! Im Bach haben wir Krebse gesucht. Der Bach geht von Kocherstetten über Vogelsberg an Schloss Stetten vorbei. Unter jedem Stein waren Krebse versteckt. Das hat natürlich den Schulweg drastisch verlängert und wir kamen oft zu spät nach Hause.
Wenn Schnee lag, sind wir mit dem Schlitten den Berg runtergefahren.
Oft mussten wir beim „Haase Bäck" mehrere Brote mit nach Vogelsberg für Frau Häußlers
Tante-Emma-Lädle mitnehmen. Aber der Herr Johann Werner hatte ein Wiesengrundstück in Kocherstetten am Hang, wo er Gülle verteilt hat und Misthaufen. Wir haben uns dann einen Spaß erlaubt und haben das Brot durch die Misthäufen hüpfen lassen. Welches Brot schafft es weiter? Danach haben wir es im Bach abgewaschen und in der Sonne trocknen lassen, damit Frau Häußler es weiterverkaufen konnte : )
Was auch eigentlich lustig war, in Kocherstetten gab es den Herrn Blumenstock. Der hatte ein Fuhrwerk mit Kühen oder Ochsen davor zum Holz machen. Bei Jakeschs vor der Wirtschaft hat er bemerkt, dass er seine Säge vergessen hat und hat das Fuhrwerk angehalten mit: Hoho. Dann ist er nach Hause. In der Zwischenzeit waren wir auf dem Nachhauseweg von der Schule und da haben wir Hü-Hott gerufen und das Fuhrwerk ist mitsamt den Ochsen bis nach Vogelsberg gerannt.
Am nächsten Schultag kam der Lehrer Herr Gutöhrle und hat gesagt: „Alle Vogelsberger Buben nach vorne! Seid ihr mit einer Tatze einverstanden? Für das was ihr gestern gemacht habt?“ Wir waren alle damit einverstanden, aber das Schlimmste war, wir mussten uns entschuldigen. Mit gesenkten Köpfen sind wir dann zum Holzmacher gelaufen nach der Schule und zum Glück hat seine Frau uns schon gesehen und aus dem Fenster geschaut. Sie lachte und sagte: „Ist schon gut, Bube, geht schnell weiter, der wird sich schon wieder beruhigen." Da sind wir schnell Richtung Berg hoch nach Vogelsberg gelaufen.
5. Wie viele Autos gab es in deinem Ort?
Ein Auto hatte niemand während meiner Schulzeit. Karren mit Kühen oder Ochsen waren fast in jeder Landwirtschaft.
6. Wo fand der Sportunterricht statt?
Sport haben wir im Freien gemacht. Am heutigen Badeplatz von Kocherstetten haben wir Dehnübungen gemacht, Fußball gespielt.... Schwimmen durfte keiner im Kocher, das war dem Lehrer bei 40 Schülern zu gefährlich, vor allem, weil fast keiner schwimmen konnte. Dazu fehlte den Eltern die Zeit, dies den Kindern beizubringen, viele Eltern konnten selbst nicht schwimmen.
7. Hattest du viel Zeit zum Spielen? Was für Spiele hast du gerne gespielt? Hattest du viel Spielzeug? Welches Spielzeug war dir das liebste?
Wir hatten keine Zeit zum Spielen, außer auf dem Weg zur Schule und wieder zurück. Aber selbstgemachte Kreisel, Halma oder Mensch ärgere Dich nicht hatten wir zu Hause. Mein Lieblingsspiel war Elfer raus.
8. Was war in deiner Kindheit ganz anders als heute?
Man hat mit wenig Leben müssen. Wir waren sehr genügsam. Auch weil der Krieg viel von uns gefordert hat. Wir waren bei Angriffen oft tagelang im Keller und haben Brot gegessen, das schon geschimmelt hat, aber das war nicht schlimm. Den Schimmel haben wir abgekratzt und dann hat das Brot zu einem Apfel ganz gut geschmeckt. Im Ort gab es ein Telefon beim Großbauer Wex, da konnte man ab und zu telefonieren, aber nur wenn es dringend war.
Süßigkeiten gab es an Weihnachten als Plätzchen, das war richtig schön, da haben wir uns schon das ganze Jahr darauf gefreut. Meine Mutter hat aber die Plätzchen so versteckt, dass wir nicht einfach holen durften. Als 1945 der Krieg zu Ende ging, kamen auch die Amerikaner nach Vogelsberg. Sie waren sehr, sehr nett zu uns Kindern und haben uns Kaugummis oder Schokolade geschenkt.
Geld hatten wir wenig, aber die Zusammengehörigkeit, die Wertschätzung und die Liebe in der Familie hat uns am Leben erhalten.
9. Welche besonderen Ereignisse oder Bedingungen gab es in deiner Schulzeit?
An was ich mich immer erinnern werde und was mein Leben geprägt hat, an den Frieden zu glauben: das war das Kriegsende, ich war 13 Jahre alt und es war auch mein Schulende. Wir hatten in Vogelsberg viele polnische Zwangsarbeiter, die den Landwirten geholfen haben, Frauen und Männer. Unsere eigenen Männer und männliche Jugendliche hat man ja in den Krieg geschickt. Da kam eines Tages ein Lastwagen mit deutschen Soldaten, es muss 1945 gewesen sein. Sie haben alle Zwangsarbeiter zusammengejagt und bei Sprengs an die Hauswand gestellt. Sie wollten alle erschießen. Vor unseren Augen. Ich war 13 Jahre alt. Herr Bullinger, der Großbauer und Landesbauernführer, hat sich vor alle gestellt, sein eigenes Leben damit riskiert und sie gerettet.
Er hat mit seiner mutigen Tat vielen Familien das Leben gerettet. Dieses Ereignis ist eines von vielen, das ich niemals vergessen werde.
10. Gibt es noch etwas, woran du dich besonders gerne oder ungern erinnerst?
Was damals auch schön für uns war, das hat der Adolf Hitler geschickt für seine Zwecke gemacht, wir durften mit 12 Jahren zum Jungvolk. Mit Uniform und einmal in der Woche oder auch am Wochenende hatten wir Dienst mit Geländespiel, Liedern und vielen Kameraden. Dann mussten wir zu Hause nicht arbeiten.
Was auch sehr schön war, wir bekamen jeden Monat eine Postkarte von meinem Vater aus dem Krieg. Wir freuten uns alle sehr darauf.
An was ich mich nicht so gerne erinnere, aber immer in meinen Gedanken sein wird: Es kamen während meiner Schulzeit, es muss 1945 gewesen sein, ca. 200 deutsche Soldaten nach Vogelsberg, die haben sich in Scheunen versteckt und in Häusern, wir haben sie versorgt mit Essen und Trinken. Viele junge Soldaten, darunter viele, die nur 3, 4 Jahre älter als ich waren, alle sehr nett. Eines Morgens, als wir zur Schule laufen wollten, waren alle verschwunden. Wir wunderten uns, wo die alle hin sind. Wohl hatten sie einen Marschbefehl erhalten. Wir haben sie nie wieder gesehen. Es ist zu befürchten, dass viele von ihnen noch in den letzten Kriegstagen ums Leben kamen.
Ganz traurig für uns: die letzte Karte kam im April 1945 von meinem Vater. Im Mai war der Krieg zu Ende und die ganze Einheit meines Vaters wurde niemals gefunden.
Nach dem Kriegsende ging ich nicht mehr in die Schule, sondern musste, wie viele andere meiner Mitschüler, in der Landwirtschaft arbeiten. Im Winter 1945/46 waren wir dann in der sogenannten Winterschule, da haben wir vor Ort alles über die Natur gelernt – in der Praxis, ohne etwas aufzuschreiben. Wir haben so gelernt, wo Pflanzen am besten eingepflanzt werden sollen und haben damals auch ganze Wälder angepflanzt.
Anmerkung:
Ich habe meinen Vater befragt und es waren sehr traurige und bewegende, aber auch lustige Stunden. Der Krieg hat seine Schulzeit und sein ganzes Leben geprägt.
Petra Kalis